Nachhilfe durch Ulla und Ulrich
Ulrich und Ulla haben das alte Jahr, als es noch ein ganz neues war, dazu genommen, sich als Mann und Frau zu nehmen. Das Jahr 2002 bauten sie. Neue Liebe - neues Nest. Aber Ulrich und Ulla bauen nur mit neuen Materialien. Im Stil hingegen eifern sie ihren Vorfahren nach und fachwerkern: Sie ließen sich ein Fachwerkhaus bauen. Eigentlich ein schönes Zeichen - für manch lohnenswertes Traditionsbewusstsein unseres flüggen Nachwuchses. Ich habe Ulrich und Ulla jetzt in ihrer funkelnagelneuen (ich weiß, ich weiß: echtes Fachwerk hat keine Nägel) Urhütte der Lüneburger Heide besucht. Im Landkreis Celle wohnen sie, aber auf solch Haus wie das von Ulrich und Ulla stehen auch gewisse Kreise in unserem Kreise. Auf diesen Häusern, die den Urhütten der Lüneburger Heide nachempfunden sind, stechen natürlich neuere Sprüche auf den frisch handgeschnitzten Balken ins Auge. Natürlicherweise keine Bibelsprüche mehr. Aber immerhin auch keine Sprüche von Asterix oder Groenemeyer oder Textzeilen aus der Hiphop-Welt. So ewig erscheint die gegenwärtige Textproduktion den jungen Fachwerk-Bauherren denn doch nicht. Aber wie immer und bisher weisen die neuen Altbalken die Namen ihrer natürlich neuen und neubauenden Besitzerinnen und Besitzer aus. Eigentlich ein schönes Zeichen. Doch mit dem Wort „eigentlich“ ist meist eine Einschränkung verbunden. Denn die neuen Balken sind sozusagen halbnackt. Sie weisen nur die Vornamen aus. „Ulla und Ulrich" steht auf dem Balken. Und dahinter die brandneue Jahreszahl 2003. Denn die Einweihungsparty war pünktlich Anfang Januar. Nicht nur Ulla und Ulrich lassen ihre Nachnamen weg. Sie zeigten mir gleich zwei weitere neugebaute Urhütten im Niedersachsenstil - nur Vornamen. Aus den Spruchbalken sind also jetzt Namensbalken geworden, lerne ich. Und staune. Ulrich und Ulla merken mein Staunen und ich versichere eilig, dass ich auch nicht mehr auf Heirat und Ehe bestehe. Oder gar auf einem Familiennamen. Gar dem des Mannes. Ja, ich betone Ulrich und Ulla gegenüber, wie sehr ich den Bedarf junger Paare nach neuen Lebensformen unterstütze. (Und hoffe, dass die beiden nicht wissen, wie vorsichtig man Leuten gegenüber sein muss, die etwas wiederholt beteuern.) Ich frage schüchtern, warum keine Nachnamen da stehen. Wo sich doch nun die Spruchbalken von ehedem sowieso zu Namensbalken hin entwickelten? Und zumal die beiden durchaus tragbare Nachnamen führen. Keine Peinlichkeiten oder Knaller, die manche unglücklich Geborene lieber verstecken und deshalb lebenslang nur Vornamen benutzen. Ich lerne von Ulrich und Ulla, dass ihre Nachnamen auf dem Balken sie beide zu sehr festschreiben würden. Und das Haus würde auch festgeschrieben - mit alten Namen trotz neuer Besitzer „Kein Mensch“ höre ich, ist bei der heutigen Lebenserwartung jahrzehntelang mit einem Partner zusammen. (Ich nicke, um generelle Informiertheit zu zeigen). Deshalb-werde ich unterrichtet – sei der Namensbalken auch herausnehmbar und später auszuwechseln. Bei wechselnden Partnern. Oder bei wechselnden Besitzernamen. Ich nicke mehrfach, um mein Verständnis zu zeigen (was nicht heißt, dass ich Ulrich und Ulla verstehe). Für ihr Haus, dies wunderschöne Fachwerkhaus, bin ich froh, dass die Balken es zusammenhalten, die verschiedenen Fächer die Wände verbinden. Wo schon die dem Haus innewohnende Verbindung auf einer gewissen Unverbindlichkeit baut.
14. Januar 2003